Filmkritik: Systemsprenger (2019)

Eine Frage schoss mir während des Schauens von Systemsprenger häufiger als jeder andere Gedanke des Lobs oder der Kritik durch den Kopf: Wie einfach macht es sich dieser Film bzw. generell ein Film eben dadurch, dass er es sich nicht leicht macht? Dies mag nun zunächst einmal gänzlich unvereinbar klingen. Dennoch ist dieser nicht aufzulösende Widerspruch in der Frage an mich selbst eigentlich ein perfekter Ansatzpunkt, um sich dem ersten dramatischen Spielfilm von Regisseurin Nora Fingscheidt zu nähern. Bis zu welchem Grad ist der Mensch von determinierenden Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Institutionen abhängig? Inwiefern widerspricht dies der Antwort, welche von Systemsprenger auf die Frage nach persönlicher Verantwortung von Menschen für sich selbst und ihre Nächsten gegeben wird? Und wie (nicht-)leicht lässt sich ausgehend davon die dargestellte Gesamtsituation einschätzen?

Wirklich nicht leicht hat es die Figur der neunjährigen Benni (eigentlich Bernadette) definitiv. Eine traumatische Erfahrung als Kleinkind sowie generelle familiäre Probleme führten bei ihr zu einem scheinbar nicht umzukehrenden aggressiven und nicht berechenbaren Verhalten. Deshalb muss sie aktuell ihrer Familie fernbleiben und wird aufgrund immer wiederkehrenden gewalttätigen Fehlverhaltens von einer Sonderinstitution zur nächsten geschoben. Es gibt nur wenige Erwachsene, die nicht die Geduld mit Benni verlieren und ihr fortwährend mit ihrer Rehabilitation helfen wollen. Frau Bafané sowie der von ihr engagierte Schulbegleiter und Gewalttrainer Micha kümmern sich mit aller Kraft um Benni, um ihr endlich wieder ein besseres Leben ermöglichen zu können. Doch natürlich ist die Arbeit mit ihr trotz aller Bemühungen für beide ein ständiges Auf und Ab, das weder die beiden Erwachsenen noch Benni kalt lässt und entsprechend bei jedem früher oder später zu einem oder gleich mehreren emotionalen Zusammenbrüchen führt.

Systemsprenger fasziniert über seine gesamte Laufzeit und ist darüber hinaus aufgrund des emotionalen Investments schlichtweg spannend anzusehen. Dabei ist die Schauerfahrung bis zu einem gewissen Grad mit einem Autounfall vergleichbar, der sich für 125 Minuten immerzu wiederholt, ohne dass man die Augen davon abwenden kann. Technisch wird dies vor allem durch den thematisch passenden Schnitt unterstützt. Die Montage spiegelt oft auf kreative Weise den Inhalt der Geschichte wider, indem gewisse Szenen einfach in die bis dahin bestehende, sicher wirkende filmische Welt ausbrechen, so wie die Wut von Benni das auch immer und immer wieder tut.

Genauso ist Systemsprenger ein Film, der es schafft, sein Publikum auf eine der einfachsten und effektivsten Weisen überhaupt zu bewegen: Mit emotionalem Charakterdrama. Nahezu alle Figuren sind interessant, allerdings auch mit Fehlern behaftet und dadurch menschlich. Viele der Nebenfiguren lassen sich bezüglich ihrer Reaktionen auf die dargestellten Extremsituationen besser nachvollziehen als manche ausführlich charakterisierten Protagonisten aus anderen Filmen. Keiner der Erwachsenen geschweige denn eines der Kinder, denen Benni auf ihren stellenweise Amokläufen gleichenden Eskapaden begegnet, hat es leicht mit ihr. Jedes Mal, wenn Benni mit einer anderen Partei aufeinander trifft, kommt es früher oder später zu Konflikten, welche sowohl den Beteiligten als auch Unbeteiligten zum Teil massiven physischen, aber vor allem emotionalen Schaden zufügt. Man kann eigentlich gar nicht anders, als mitzufühlen. Doch verdient der Film sich diese starken emotionalen Reaktionen überhaupt? Die Antwort auf diese Frage ist ebenfalls nicht ganz einfach.

Nahezu alle Interaktionen und Beziehungen zwischen den im Film porträtierten Menschen wirken absolut genuin und authentisch. Dem entgegen steht jedoch leider die Tatsache, dass einem früher oder später klar wird, dass trotz aller Anstrengungen und tatsächlichen Verbesserungen der Situation am Ende doch alles vergebliche Liebesmühe sein wird. Jede Szene, welche kurzzeitig die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang weckt, wird irgendwann zum Schlechteren umschlagen. Ist diese Dynamik einmal durchschaut, bleibt jedes neue Ereignis trotz wirklich mitreißenden Schauspiels und fesselnder Charakterentwicklung eine immer gleiche Abfolge. Zweifellos ist das auch die Intention hinter diesem Geschichtsverlauf. Die dadurch im Zuschauer zurückbleibende Frustration ist allerdings nicht produktiv und als reiner Selbstzweck ohne weiterführendes Ziel eher Enttäuschung als echte Aufgewühltheit. Dieser grundsätzliche Fehler in der Struktur und Konzipierung von Systemsprenger verhindert letztendlich, dass der Film auf ganzer Linie überzeugt.

Am schlimmsten daran ist, dass man als außenstehender Zuschauer gerade im letzten Drittel des Films in vielen Fällen so offensichtlich erkennen kann, was das zerstörerische Problem war und durch wen oder was es verursacht wurde. Und gerade deshalb ist es eigentlich nie möglich, ohne weiteres einem der Beteiligten die alleinige Schuld oder Verantwortung für die Geschehnisse zuzuschreiben. Immer sind es Kleinigkeiten, unüberlegte Handlungen und Aussagen, die den momentanen Frieden zernichten. Schlicht weil nichts perfekt ist, weil das System nicht perfekt ist und wir es auch nicht sind, gibt es für Benni keinen Ausweg aus ihrer Situation. Und da ich eben genauso wenig perfekt bin wie alle anderen, gibt es ebenso keinen richtigen Ausweg aus der Kritik zu diesem Film.

In der Tat könnte der Text hier und jetzt enden. Das wäre sehr einfach. Anders als der Film möchte ich jedoch einen definitiven Standpunkt kommunizieren.

In dem Bauern, von dem Bennie und Micha während ihres Aufenthalts in der Waldhütte mit Milch versorgt werden, findet sich noch am ehesten so etwas wie eine konkrete Position, welche vom Film bezogen wird. Der Bauer nämlich (auch wenn er genauso menschlich gezeichnet ist wie alle anderen) ist eine ganz klar negative Figur, deren einseitige Verurteilung Bennis und moralische Vorwürfe gegenüber den für sie verantwortlichen Erwachsenen als unsinnig und unproduktiv dargestellt werden. Demgemäß wäre das Sinnvollste, was man im Angesicht einer so schwierigen Situation tun könne, sich deutlich von konservativen Moralvorstellungen abzugrenzen. Systemsprenger tut dies ganz eindeutig. Darüber hinaus wird das zentrale Dilemma aber nicht gelöst. Das wäre grundsätzlich kein Problem, doch im Gegensatz zu manchen anderen Filmen mit ähnlich uneindeutiger Auflösung wie beispielsweise dem grandiosen Sorry We Missed You lässt sich aus der ungelösten Problemstellung nicht einmal eine wirkliche Kritik am grundlegenden System oder sonst etwas ableiten. Es bleibt lediglich bei der Feststellung des Dilemmas und besagter Abgrenzung. Obwohl das Thema der realen Konflikte, welche keine einfache Lösung haben, verhandelt wird, führt diese Auseinandersetzung zu keinem erkennbaren Ziel. Genau das möchte Systemsprenger ja auch, nur als gut kann ich es deshalb trotzdem nicht bewerten.

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